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Körperzeichen

Das Forschungsfeld „Körperzeichen“ erforscht Körperbilder und -zeichen, vom repräsentativen Abbild bis zur Stigmatisierung, z. B. durch eine Körperstrafe. Es beleuchtet die Differenzierungs- und Wahrnehmungskategorie „Körper“, auch in der schwierigen Beziehung zur „Seele“. Dabei stellt sich die Frage nach einer kulturellen Codierung von Körperzeichen gegenüber einer Eigenmächtigkeit des Körperlichen und Psychischen.

Körperzeichen stellen vor allem kulturelle Repräsentationen dar, die Disability und Ability in ihrem spezifischen Wechselverhältnis inszenieren. Insbesondere Literatur spielt dabei eine Rolle, denn sie kann den Blick auch auf Imaginiertes und Gewünschtes, Ängste und Gefährdungen, Möglichkeiten und Grenzen lenken, die auch außerhalb der erlebbaren Realität angesiedelt sein können. Sie bietet Sinnkonstrukte und Bewältigungshilfen an, die sich nicht direkt an Alltagstauglichkeit und dem Paradigma des ‚Funktionieren-Müssens’ messen lassen müssen. Körperliche Differenz, die damit verbundenen potentiellen Diskriminierungsformen, aber auch Möglichkeiten der Teilhabe und Fürsorge werden in der Literatur in einer Weise sichtbar und sagbar, die in anderen Diskursen (dem herrschaftlichen, rechtlichen, medizinischen u.a.) so nicht möglich wäre.

Bezogen auf verschiedene Kreise, wie Bauern, Handwerker, Kaufleute, Geistliche, Ritter, Soldaten, Gelehrte und Herrscher, ist hier aber auch zu fragen, inwiefern bestimmte Körperzeichen soziale Gruppen konstituierten oder sich im Lebenslauf „behindernd“ auswirkten. Damit rücken neben literarischen Texten auch andere Quellen in den Blick.

Das Projekt „Schreiende Kriegswunden – Trauma in der vormodernen Literatur“ (Sonja Kerth) verbindet aktuelle Fragen der Dis/ability History mit Fragestellungen der Historischen Emotionsforschung, der Historischen Literaturpsychologie, der Historischen Semantik und der Gender Studies.

Der Trauma-Begriff soll breit gefasst werden und andauernde seelische Versehrung nach Gewalteinwirkung sowie Beeinträchtigung/Behinderung durch körperliche Traumen als Folge von Gewalt und Krieg behandeln. Auch wenn mittelalterliche Autoren weder spezifisches Wissen über Trauma und posttraumatische Belastungsstörungen noch entsprechende Begriffe dafür besaßen, finden sich doch Darstellungen, die die bleibenden Folgen gewaltsamer körperlicher Versehrung und seelischen Schocks durch extreme Gewalterfahrung thematisieren. Neben traumatisierten Kämpfern in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sollen auch Frauen als Trauma-Opfer in Folge von Gewalt und Krieg (z. B. sexuelle Gewalt, Freiheitsberaubung, gewaltsamer Verlust des Ehemannes), mitunter auch als Täterinnen, Gegenstand der Analyse sein. Diese Trauma-Erzählungen spiegeln dabei nicht Selbst-Erlebtes und sind nicht Resultat einer psychologischen Darstellung der Figuren, sondern sie geben Einblick in ein kulturelles Trauma, das im Rahmen fiktionaler Texte die Folgen von Krieg und Gewalt (auch außerhalb des Krieges) thematisiert und den Hörern bzw. Lesern durch Interpretationsprozesse Sinnressourcen bereitstellt und Denkanstöße vermittelt.

Trauma präsentiert sich generell als Narrativ und Erzählung, und nur in Erzählungen ist es zu artikulieren: Die Fragmente realer oder literarisch vermittelter Erlebnisse können in der Erzählung geordnet und zusammengesetzt werden, im Sprechen werden Bedeutung und Sinn des Erlebten erkannt und hergestellt. Das Kriegstrauma kann so zur kollektiv akzeptierten Meistererzählung werden, geht hier aber nicht vom realen Ereignis aus. Es ist vielmehr Ergebnis von Interpretationsprozessen in weltlicher Dichtung vor allem für eine Kriegeraristokratie und für Menschen in Städten und ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Beschäftigung mit dem Verhältnis der Geschlechter und mit Emotionalität zu sehen. Damit stellt sich die Frage, wo Trauma-Erzählungen methodisch verortet werden können: Werden sie über Emotionen codiert (Trauer, Zorn, Angst?), lassen sie sich über literaturpsychologische Fragestellungen greifen oder haben sie eine (ausschließlich?) narrative Funktion bei der Figurendarstellung und im Handlungskontext?

Untersuchungsgegenstand ist primär die deutsche Erzähldichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, vor allem Heldenepik (“Nibelungenlied”, „Nibelungenklage“, Dietrichepik, Walther-Dichtungen, „Wolfdietrich“) bzw. deutsche Chansons de geste („Willehalm“, “Rolandslied”; weitere Karls- und Wilhelmsepik); höfischer Roman (v.a. „Erec“, „Iwein“, “Parzival”, “Krone”); Märendichtung (z. B. Werner der Gärtner, Herrand von Wildonie, Heinrich Kaufringer, Hans Rosenplüt, Hans Folz); ggf. Legenden, Autobiographik.

Das Thema “Schmerz” bildet eine wichtige Anschluss- und Schnittstelle für die Disability History. Erfahrungen von Schmerz und Leid wurden in den Disability Studies lange ausgeklammert. Gerade in der Vormoderne stellte Schmerz jedoch eine zentrale Deutungskategorie dar. Das Postdoc-Projekt “Schmerzerfahrungen im Mittelalter” (Bianca Frohne) widmet sich einem ständig präsenten, jedoch methodisch schwer fassbaren Phänomen im Schnittfeld von biologisch-physiologischen und soziokulturellen Prägungen. Um die Bedeutungen und Thematisierungsweisen von Schmerz im Zusammenhang mit langfristiger Krankheit, Gebrechen und Versehrtheit in vormodernen Gesellschaften zu erfassen, bedarf es eines breiten methodischen Zugriffs, der aus kulturgeschichtlicher Perspektive entwickelt werden soll. Das Projekt setzt im Frühmittelalter an und verfolgt die langfristige Entwicklung des Umgangs mit Schmerz und seinen Bedeutungen bis zum 13. Jahrhundert.

Das Postdoc-Projekt „BlindGänger. Eine Ästhetikgeschichte der Blindheit von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“ (Alexandra Tacke) untersucht die unterschiedlichen Funktionen von blinden Figuren in Literatur, Theater, Film und Bildender Kunst in einem größeren historischen Rahmen. Das Thema Blindheit hat Mediziner, Theologen, Pädagogen und Philosophen gleichermaßen beschäftigt; (Farben-)Blindheit, grüner und grauer Star, blinder Fleck und hysterische Blindheit, aber auch die Privilegierung anderer Sinneswahrnehmungen waren Gegenstand naturwissenschaftlicher und wahrnehmungstheoretischer Forschung. Auch bei Autor_innen, Künstler_innen und Filmemacher_innen lässt sich ein großes Interesse für das Thema Blindheit über die Jahrhunderte hinweg konstatieren. So wird durch blinde Figuren eine Fülle von Fragen aufgeworfen: Wie verläuft die Wahrnehmung im jeweiligen Medium (Text, Film, Fotografie, Hörspiel und Kunst)? Welche ‚blinden Flecken‘ der Wahrnehmung treten dadurch hervor? Inwiefern hängen Außen- und Innenschau zusammen? Welche Irritationen bewirkt der leere Blick der Blinden – und unterläuft so übliche Blick- und Machtstrukturen? Welche Ängste, Projektionen und Vorstellungen sind mit der Figur des Blinden verbunden? Warum bzw. wann wird Blindheit als Devianz oder auch als Auszeichnung verstanden? Inwiefern ist das Geschlecht der Blinden von Bedeutung? Warum tauchen blinde Frauen erst relativ spät in der (Post-)Moderne auf, während die antike und christliche Kulturgeschichte – abgesehen von allegorischen Darstellungen wie Fortuna, Justitia und Synagoga – vor allem blinde Männer kennt (Teiresias, Ödipus, Samson etc.)? Die geplante Studie will also Fragen der Aisthesis, der Wissenschafts-, Medien- und Kulturgeschichte, der Geschlechter- und Blickregime sowie der Dis/ability Studies anhand verschiedener Figurationen von Blindheit zusammenführen.

Christoph Wieselhuber untersucht in seinem Dissertationsprojekt „’Behinderung’ im Spiegel spätmittelalterlicher Predigten und Exempla“: Im 12./13. Jahrhundert entwickelte sich ein neuer Typus christlicher Predigten. Losgelöst von den oftmals starren Regeln der kirchlichen Messe sprachen die Wanderprediger der sich etablierenden Bettelorden unter freiem Himmel vor immer größer werdendem Publikum. Ihre räumliche Nähe zum Zuhörer verstärkten sie dadurch, dass die Brüder ihren Predigtstil und -inhalt an die jeweiligen Rezipienten (und damit auch an unterschiedliche Predigtsituationen) anzupassen suchten. So bemühten sie sich um „Aufhänger“ und Beispiele aus dem Alltag des Publikums, um christliche Moral zu predigen und erstrebenswertes Verhalten herbeizuführen. Hierbei werden auch Krankheit und Gebrechlichkeit in den Fokus genommen. Ein nicht zu unterschätzender Bestandteil der spätmittelalterlichen Predigttradition in diesem Zusammenhang ist häufig auch das Exemplum, das durch seine Charakteristik als anschauliches Beispiel besondere Aufmerksamkeit verdient. Im Schnittpunkt dieser Doppelperspektive (vermeintlicher Alltag des Laien und gewünschte gesellschaftliche Konformität) soll auch der theologische Diskurs im Zusammenhang mit der Frage nach Dis/ability untersucht werden.

Aktuelles

Neuerscheinung: Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion, hg. v. Cordula Nolte, Bianca Frohne, Uta Halle, Sonja Kerth, Affalterbach 2017.

Disability History der Vormoderne Weitere Informationen


Workshop “Perspektiven der Dis/ability History im interdisziplinären und internationalen Verbund”,

  1. – 7. Februar 2016 (Delmenhorst, Hanse-Wissenschaftskolleg) Weitere Informationen

Workshop “Images of Dis/ability”. Disease, Disability & Medicine in Medieval Europe, 9th Annual Meeting, Bremen, 4.-6. Dez. 2015. Weitere Informationen


Neu: Swantje Köbsell: LeibEigenschaften - eine barrierefreie Ausstellung über den Umgang mit Beeinträchtigungen in der Vormoderne, in: Handbuch Behindertenrechtskonvention (2015). Zu Entstehungshintergrund, Idee und Umsetzung der Bremer Ausstellung von 2012.


Neu: Dissertation von Bianca Frohne: Leben mit »kranckhait« Der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 9), Affalterbach 2014. Weitere Informationen


Interdisziplinäres Ringseminar an der Universität Bremen: “Dis/ability History. Ein neuer Blick auf die Geschichte”. Wintersemester 2014/15, Freitags von 10 – 12 Uhr, GW2, Raum B 2880. Weitere Informationen


2014 Conference on Disease, Disability and Medicine in Medieval Europe: Infection and Long-Term Sickness. University of Nottingham, 6./7. Dezember 2014. Weitere Informationen


Graduate Workshop on Medieval Disability, University of Nottingham, 5. Dezember 2014. Weitere Informationen


Workshop: „Dis/ability History, Literaturwissenschaft und Sprachgeschichte im Dialog” unter der Leitung von PD Dr. Sonja Kerth und Dr. Heiko Hiltmann (Universität Bremen). Bremen, Gästehaus am Teerhof, 10./11. Oktober 2014.
Weitere Informationen


Workshop: „Dis/ability: Archäologie & Anthropologie - Funde und Befunde”
unter der Leitung von Prof. Dr. Uta Halle (Universität Bremen), Dr. Christina Lee (University of Nottingham) und PD Dr. Wolf-Rüdiger Teegen (Ludwig-Maximilians-Universität München). Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst, 13./14. Juni 2014 . Mehr


Neuerscheinung: Phänomene der “Behinderung” im Alltag. Bausteine zu einer Disability History der Vormoderne, hg. von Cordula Nolte (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 8), Affalterbach 2013. Weitere Informationen unter Didymos Verlag


Workshop „Dis/ability and Law in Pre-Modern Societies.
Schnittfelder von Rechtsgeschichte und Dis/ability
History“
unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Nolte (Universität Bremen) und Prof. Dr. Wendy Turner (Georgia Regents University, Augusta). Universität Bremen, 31. Jan./01. Feb. 2014. Mehr


Workshop „Dis/ability History und Medizingeschichte. Begriffe – Konzepte – Modelle“ unter der Leitung von Prof. Dr. Cordula Nolte (Universität Bremen) und Prof. Dr. Dr. Ortrun Riha (Universität Leipzig). Bremen, Gästehaus Teerhof, 16./17. September 2013. Mehr